Erfahrungsbericht
Behinderung

Von Pionieren und Löwen

Tobias Degasperi
30
September
2025

Von Pionieren und Löwen

Mit geöffnetem Mund und Augen hört Maximilian uns zu. Ich bin bei ihm zuhause, im Gespräch mit seinen Eltern Hansjörg und Annemarie, zwei echten Kämpfern! Seit Jahrzehnten leisten sie Pionierarbeit für alle Menschen, die ihr Schicksal teilen: ein Kind mit schwerer Beeinträchtigung großzuziehen. Familie Elsler im Gespräch

Ein Kind ist Maximilian mittlerweile nicht mehr, mit 32 Jahren eigentlich ein junger Mann, mitten im Leben. Doch seine Pflege ist aufwändig, einem Kind gleich muss er getragen, angekleidet, mit Essen versorgt werden, kurzum vollständig gepflegt und betreut werden. Eine Mammutaufgabe für die Eltern, die all die Jahre zwei weitere Kinder ins Leben geführt haben, denn Maximilian ist einer von Dreien, ein Drilling. „Ich bin eine Löwin”, betont Annemarie mir gegenüber und es ist wahr, denn nur wer unbändig sich für sein beeinträchtigtes Kind einsetzt, wird Erfolge einfahren, die oftmals klein sind und den Arbeitsaufwand nicht entschädigen. Mutlos sind Maximilians Eltern aber nie geworden, dafür wissen sie zu gut, um was sie kämpfen: dass Maximilian Gehör findet.

Ist es nicht so, dass wir „gesunde” Menschen es uns so einrichten, dass wir möglichst wenig Kontakt zu Menschen mit Behinderung eingehen? Wir sprechen gerade in Südtirol gerne von gelungener Inklusion - gerade eben wurden 10 Jahre Inklusionsgesetz zelebriert - doch statt Akzeptanz geschieht immer noch Ausschluss. Spätestens wenn die Schulpflicht absolviert wurde, verschwinden die meisten Menschen mit schwerer Beeinträchtigung in gesonderten Strukturen, in denen sie bestimmt gut aufgehoben, allerdings vom Rest der Welt relativ abgeschieden leben. Auch Maximilian erging es so: War er in der Schulzeit in den unteren Jahrgangsstufen recht gut in die Gemeinschaft integriert, wurde es mit der Zeit immer schwieriger mitzuhalten. Einzelne Mitschüler kümmerten sich auch in der Freizeit sehr liebevoll um ihn, doch spätestens nach der Ausschulung ging jeder seiner Wege, Maximilian konnte nicht den gleichen Zukunftswünschen nachgehen und auch den jungen Menschen ist es nicht zu verdenken, dass sie ihn aus den Augen verloren. So fällt das Schicksal dieser Menschen wieder hauptsächlich auf die Kernfamilie zurück. Was jedoch, wenn Eltern oder Geschwister die Pflege nicht mehr übernehmen können? Mit dieser Frage konfrontieren sich Annemarie und Hansjörg regelmäßig. Hansjörg ist mittlerweile in Pension und musste sich auch gesundheitlich zurücknehmen, sodass die Frage nach der Zukunft sich immer mehr aufdrängt.

Dopo di noi

Vielleicht leisten die Elslers auch hier wieder Pionierarbeit? Jedenfalls gibt es bereits einen Verein, „dopo di noi”, der genau dieses Anliegen aufgreift: Was passiert mit Menschen wie Maximilian, wenn die Eltern einmal nicht mehr da sind oder nicht mehr können? Noch sind sie aber sehr präsent und erläutern mir in unserem Gespräch die aktuelle Situation in Südtirol, über die beide sehr gut im Bilde sind, schließlich war Hansjörg lange Zeit im Vorstand des Arbeitskreises der aktiven Eltern von Menschen mit Behinderung (AEB) und über viele Kontakte bestens vernetzt. „In Südtirol sind die vielen Strukturen zwar eine große Errungenschaft, allerdings wird dadurch die Eigeninitiative Einzelner oder von Familien eingeschränkt oder auch zurückgefahren, weil man ja oft auf die vorhandenen Organisationen verweisen kann. Dadurch schleicht sich aber auch eine gewisse Schwerfälligkeit ein und neue Ideen setzen sich kaum durch”, meint Hansjörg, der auch bedauert, dass in all den Jahrzehnten sich zwar vieles zum Guten bewegen ließ, die Mentalität der Gesellschaft aber weiterhin nicht dem Wohl der Menschen mit Behinderung gewogen sei. Im Gegenteil, durch die Zuspitzung auf eine immer stärker getaktete Leistungsgesellschaft schiele man auf Menschen, die nicht arbeiten können und die Akzeptanz dafür schwinde zunehmend. Ähnlich wie bei alten Menschen, werden isolierte Bereiche geschaffen, die nicht mehr Leistungsfähige ausgrenzen. Ein Widerspruch zu unserer „ach so toleranten“ und Vielfalt preisenden Gesellschaft. Inzwischen wird Maximilian allmählich unruhig. Er möchte vielleicht hinaus in die frische Luft oder ist es satt, immer wieder die gleichen Themen zu hören, schließlich haben seine Eltern unzählige Projekte mit Maximilian ins Leben gerufen, von Filmen und Zeitungsartikeln über ihn, bis zur heutigen Begegnung, sind sie immer noch sehr aktiv und geben den Kampf nicht auf.

Eine zusätzliche Hürde stelle mittlerweile die Digitalisierung dar, denn gerade stark eingeschränkte Personen seien dadurch nicht anschlussfähig. Vielleicht, geht es mir durch den Kopf, wird die Technik eines Tages einen Brückenschlag hinkriegen und durch neue Geräte auch Menschen wie Maximilian es ermöglichen, Teil der digitalen Welt zu sein? Doch bevor wir zu viel Hoffnung auf den Fortschritt setzen, wäre es bereits ein Plus, wenn Menschen mehr Empathie wagen würden. Annemarie und Hansjörg nehmen nämlich zunehmend einen Schwund derselben wahr.

Empathie schwindet

Jeder schaut mittlerweile auf sich selbst, Zeit scheint keiner mehr zu haben, und so sind gerade Menschen wie Maximilian noch hilfloser als sonst, schließlich leben sie in totaler Abhängigkeit von anderen. Diese Abhängigkeit voneinander war auch für die Elslers eine große Herausforderung. Wie kann man es als Eltern schaffen, ein pflegebedürftiges Kind so viele Jahre zu umsorgen, ohne sich selbst zu übernehmen? Auch hierin haben sie Pionierarbeit geleistet und durch immer wiederkehrende Sensibilisierung kleine Fortschritte erreicht.

Es galt Hauspflegedienste und Wochenenddienste für Minderjährige aufzubauen, Selbsthilfegruppen wurden ins Leben gerufen, allerdings besteht weiterhin ein großer Bedarf an Freiwilligen. Und diese schwinden, wenn die Empathie abhandenkommt, betont Annemarie. Sie selbst hat sich stets um ihr inneres Gleichgewicht gekümmert, um nicht unter die Räder zu gelangen und die Empathie nicht zu verlieren. Hilfe waren ihr dabei Yoga, Meditation und Gebet, aber auch das Gespräch mit guten Freunden und die Pflege der eigenen Interessen. Nach vielen Jahren der täglichen Sorge um Maximilian haben sich die Elslers schließlich 2016 entschlossen, Maximilian dem betreuten Wohnen anheimzugeben, da sie merkten, es nicht mehr allein zu schaffen. Und diesen Grundsatz nehme ich bestimmt mit: sich Hilfe suchen, bevor man selbst ein Pflegefall wird. Ich staune über die Ehrlichkeit, mit der gesprochen wird. Vielleicht haben sie das von Maximilian gelernt, der stets das signalisiert, was er auch meint? Er sei generell ein durch und durch reines Wesen, sagt mir Annemarie mit innerer Überzeugung und „mein Wegweiser in schwierigen Momenten”. Annemarie hat es gelernt, auf ihn zu hören und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen.

Perspektivwechsel notwendig

Ich habe versucht, ihnen zuzuhören und auch gelernt, dass wir einen Perspektivenwechsel vornehmen müssen: Wie kann ich die Bedürfnisse eines Menschen wahrnehmen und ihnen gerecht werden? Nehme ich den anderen auch ernst, wenn er eine Beeinträchtigung hat oder fühle ich mich ihm überlegen und dränge ihm meine Vorstellung auf? Diese Fragen beschäftigen mich auch noch Tage nach meinem Besuch bei den Elslers und rufen gleichzeitig Bewunderung hervor. Gäbe es mehr solche Menschen, die wie Löwen für ihre Kinder kämpfen, hätten wir wohl eine weitaus sensiblere und feinfühligere Gesellschaft. Und damit auch kein Problem, Menschen mit Behinderung anzunehmen, anstatt sie vor der Geburt zu selektionieren oder nachher allmählich aus unserer Mitte auszugrenzen. Ich hoffe, dass es nach Hansjörg und Annemarie noch viele weitere Menschen gibt, die Pionierarbeit leisten und für eine lebenswerte Zukunft sorgen! ◻

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