Zwei Seiten einer Medaille
Von Felix im Rollstuhl, der die Schule aufmischt, und dem Leben mit einem pflegebedürftigen Kind

Ich betrete die Wohnung von Familie Wahlmüller – ebenerdig natürlich, denn ich sehe: Felix (10) sitzt durch einen Geburtsfehler im Rollstuhl. Er kommuniziert hauptsächlich mit den Augen. Er strahlt, scheint sich über meinen Besuch zu freuen. Ich erwische ihn gerade noch auf dem Sprung zum Waldtag mit der Schule, darauf freut er sich schon. Seine Integrationskraft Gerlinde begleitet ihn dabei. Für ein halbes Jahr kann sie sich Felix widmen und macht es möglich, dass er jeden Tag seine Freunde sehen kann. Dass nicht nur er, sondern seine ganze Klasse durch ihn profitiert, erlebt sie hautnah mit.
Hinter der liebevollen Verabschiedung steht eine bewegende Geschichte, keine Einfache… Viel Liebe und Tränen sind hier geflossen. Ruth und Richard Wahlmüller kümmern sich 24/7 um ihren Sohn und nehmen mich mit in ihren Alltag mit einem pflegebedürftigen Kind.
„Behindert klingt für manche negativ, darf man das überhaupt sagen?“ Ich persönlich sehe da keinen Unterschied, ob man von einer Behinderung oder Beeinträchtigung spricht. Das wird gesellschaftlich abgewertet, aber man ist ja schon gehindert, an manchen Dingen teilzunehmen.
LEBE: Frau Wahlmüller, wie haben Sie die Schwangerschaft mit Felix in Erinnerung? Hatten Sie große Sorgen wie die Geburt wird und ob es Komplikationen geben könnte?
RUTH WAHLMÜLLER: Emma, unsere 12-jährige Tochter war ein Notfallkaiserschnitt. Die Fruchtblase war geplatzt und sie rutschte zu schnell in den Geburtskanal, bekam zu wenig Sauerstoff, aber Gott sei Dank nur für kurze Zeit – ich war einfach nur dankbar, dass die Hebammen das so schnell erkannt und die Ärzte dazugeholt haben. Ich wollte deshalb auch für die zweite Geburt einen Kaiserschnitt, aber es gab keine medizinische Indikation dazu.
LEBE: So ein Notfallkaiserschnitt macht manchen Frauen ja besonders für eine nächste Geburt zu schaffen?
RUTH WAHLMÜLLER: Für mich steht einfach die Dankbarkeit, dass es meinem Kind gut ging, über allem. Die hätten von mir aus auch Kurven schneiden können, da bin ich Realistin. Das Ärzteteam der Kinderintensivstation war direkt da. Kind vom Bauch raus und alles war gut. Wir sind dann entspannt wieder von dannen gezogen.
LEBE: Nun bekam Felix bei der Geburt tatsächlich zu wenig Sauerstoff, was im Endeffekt zu seiner Behinderung geführt hat. Ich kann mir vorstellen, dass das erstmal ein Riesenschock war.
RUTH WAHLMÜLLER: Meine innere Unruhe blieb mir, aber irgendwann musste ich den Ärzten ja auch vertrauen, wenn sie mir sagten, es sei alles in Ordnung, war es aber nicht. Leider wird oft zu wenig auf die Intuition der Mütter gehört. Wir sind nicht hysterisch, wir sind Muttis – das müsste man eigentlich ernster nehmen. Jetzt im Nachhinein denke ich mir, könnte ich wohl leichter damit umgehen, wenn man hätte Gott entscheiden lassen, was mit meinem Kind passiert, anstatt mich mit menschlichen Fehlern auseinanderzusetzen.
Als er dann da war, waren alle erschrocken. Ich habe gespürt, dass sie Angst hatten, es mir zu sagen, aber ich habe ihn ja selbst gesehen, ich machte mir nichts vor. Auf der Kinderintensiv waren sie auf solche Härtefälle eingestellt. Die kommen öfters in die Situation, dass sie nicht jedes Kind retten können und sind darin geschult, Eltern in sehr schweren Situationen zu begleiten. Die konnten das und da haben wir auch gute Hilfe erfahren.
LEBE: Wo finden Paare und Familien Anschluss und Beratung, wenn sie sich in einer ähnlichen Situation befinden?
RUTH WAHLMÜLLER: Im Krankenhaus auf der Intensivstation kommen Seelsorger vorbei, die konnten mir viel helfen. Man kann sich auch ans Weiße Kreuz wenden, die haben da gute Kontakte: Sterbebegleiter, Notfallseelsorger etc. Die sind dafür ausgebildet und waren für mich ein totaler Segen. Die sprechen im großen Schock mal die Sachen aus, die man nicht formulieren kann: „So ist es jetzt, das sind jetzt mal die Fakten.“ Von da aus kann man dann weitere Schritte gehen.
LEBE: Was half Ihnen, in dieser Situation nicht in Bitterkeit zu verfallen? Wie sieht Ihr Alltag seitdem aus?
RUTH WAHLMÜLLER: Es geht phasenweise. Es ist teils schwierig, ehrlich gesagt – auch finanziell. Wir hatten einen Hof mit Pension, eine Pferdezucht etc. – das war unser Leben. Wir mussten alles aufgeben. Die erste Zeit funktionierst du nur. Das Kind braucht dich, du musst einfach da sein. Dann fühlst du dich allein gelassen, bist daheim. Es ist alles neu, ich war ja keine ausgebildete Pflegekraft.
Emma hat mir ganz viel Kraft gegeben. Sie war ganz lieb mit Felix. Manchmal habe ich Sorge, dass sie zu kurz kommt, weil sich so viel um Felix dreht. Momentan erlebe ich sie aber als sehr fröhlich trotz allem, da bin ich dankbar. Trotzdem sind wir darauf gefasst, dass da eventuell noch was kommen könnte, das es abzufangen gilt. Felix selber muss ja auch mit alldem zurechtkommen. Ich kann nicht sagen, ob er selbst darunter leidet. Alle Muskeln und Sehnen sind verkürzt durchs nicht Bewegen und das tut irgendwann weh. Ich bin gerade einfach nur froh, dass er bisher keine Schmerzen hat. Das Essen dauert lang mit ihm. Er isst täglich Brei, damit er den Schluckreflex nicht verliert, ernährt wird er aber von einer Magensonde. Das ist oft sehr mühsam, da lernt man Geduld.

LEBE: Wie geht es Felix, was macht ihn aus?
RUTH WAHLMÜLLER: Felix kann nicht sprechen, er kommuniziert hauptsächlich mit den Augen. Er ist kognitiv schwer einzuschätzen, er versteht aber definitiv mehr als man meint. Seine Gesichtsmimik ist relativ gut, da kann man viel ablesen – wenn man will. Durch meine Arbeit als Hundetrainerin und die meines Mannes als Pferdetrainer haben wir durch die Tiere schon
immer gut beobachten und wahrnehmen können. So können wir gut auf Felix eingehen. Wir haben schon viel mit ihm trainiert, sind einfach unserer Intuition gefolgt.
Gerade was Intuition und Empathie betrifft, steht er uns in nichts nach. Er bekommt Stimmungen sofort mit und spiegelt diese. Man hat das Gefühl, er hört wirklich zu und erkennt die eigenen Motive – selbst wenn man diese auch mal verbergen möchte.
RICHARD WAHLMÜLLER: Dass er das erste Mal die Finger bewegt hat, hat Ruth mit den Hunden geschafft, als sie ihm die Hände und Füße abgeschleckt haben. Dass er sich so gut gemacht hat, ist nur ihr zu verdanken, weil sie sich unermüdlich um ihn kümmert. Viele viele Stunden, die da an Liebe reinfließen. Unterm Strich sag ich trotz allem: wir haben ihn einfach gern. Wir stehen auch dazu.
LEBE: Mein Eindruck ist, ihr seid ein unschlagbares Team.
RICHARD WAHLMÜLLER: Gott sei Dank waren wir das auch schon vorher und sind es immer noch. Einmal ist der Tag, an dem ich einen Schritt nach vorne mach und dann macht sie (Ruth) wieder einen Schritt nach vorne, dass es wieder weiter geht. (zu Ruth): du wächst auch mit ihm!
RUTH WAHLMÜLLER: Vielleicht stärkt einen die Lebenserfahrung? Wir haben schon so schöne Zeiten gehabt, vielleicht können wir es deshalb besser annehmen?
LEBE: Was für ein Glück hat der Felix, euch als Eltern zu haben!
RICHARD WAHLMÜLLER: Zum Glück ist die Mama da, was täten wir ohne sie. Ihre Arbeit wird leider viel zu wenig honoriert. Eine intakte Familie, Mama und Papa haben – sich geliebt zu wissen. Das ist heutzutage ja auch bei gesunden Kindern leider nicht mehr selbstverständlich.
RUTH WAHLMÜLLER: Ich bin so dankbar, dass mein Mann noch bei mir ist und so eine Stütze! Ich wüsste nicht, was ich ohne ihn tun würde. Viele Väter ziehen sich nach so einem Fall zurück, weil sie nicht damit umgehen können.
LEBE: Was gibt euch als Familie Rückhalt?
RUTH WAHLMÜLLER: Man braucht unglaublich viel Resilienz. Kein Mensch will mit Zorn leben. Ich merke nur, dass ich manchmal aus dem Strudel kaum herauskomme. Aber dann versuche ich mich zur Dankbarkeit durchzuringen: dann fängt man halt an mit „Dach über’m Kopf, dass ich atmen kann…“ und so geht’s weiter. Das übt man und dann geht’s auch wieder. Dankbarkeit und Sorgen können nicht zugleich existieren, das ist so ein Hilfswerkzeug da herauszukommen.
RICHARD WAHLMÜLLER: Jedes Lächeln, das Felix einem schenkt, ist der Wahnsinn, das gibt uns immer wieder Kraft. Auch Gerlinde ist eine super Unterstützung, wir sind schon traurig, dass wir sie wieder gehen lassen müssen und hoffen, dass wir für das nächste Schuljahr auch wieder jemanden finden, der Felix begleitet.
„Dass dann einer halt mal nicht mitlaufen kann, sondern mitrollt, darf dann ok sein“
Am Gespräch mit Familie Wahlmüller hat auch Gerlinde teilgenommen, die Integrationshilfe für Felix. Sie gewährt Einblick in sein Leben abseits der Geborgenheit seiner Familie – in der Schule.

LEBE: Felix geht ja zur Schule. Das ist momentan nur möglich durch die Unterstützung durch eine Integrationshilfe. Wie seid ihr zu Gerlinde gekommen?
RUTH WAHLMÜLLER: Ja, Felix ist – wie alle anderen Kinder auch – schulpflichtig, bis er 16 Jahre alt ist. Vorher dürfen wir ihn nirgends sonst hinschicken. Er macht gerade die 3. Klasse. Eigentlich wäre er schon in der 5., aber wir haben ihn so lang wie möglich im Kindergarten gelassen. Im Kindergarten war’s toll, da ist das Leben: da wird gespielt, gesungen, gebastelt… und das gefällt ihm einfach am besten. Wir hoffen, dass er möglichst lange in der Mittelschule bleiben kann. Wie das in der Oberschule werden soll, kann ich mir aktuell nur schwer vorstellen. Ende letzten Jahres fehlte er einige Wochen, da die Integrationshelferin zuvor ausgefallen ist. Einer seiner Freunde hörte nicht auf, nach Felix zu fragen. Da startete dessen Mama einen Aufruf bei Facebook, um jemanden zu finden. Das wurde so oft gepostet und hat eine riesige Welle ausgelöst, das kam sogar in der Tageszeitung. Die Schule war wirklich bemüht, ich habe auch alle offiziellen Stellen abgeklappert. Aber manchmal braucht es nicht nur die Eltern, sondern eine dritte Person, damit was bewegt wird. Emotion, nicht nur Information.
GERLINDE: Eigentlich bin ich Entspannungspädagogin. Als meine Supplenzstelle im Kindergarten auslief, schickte meine Schwester mir diesen Facebook-Post. Und dann wurde aus einem unverbindlichen Anruf eine neue Berufung für mich.
LEBE: Gerlinde, was schätzt du am meisten an Felix, wie erlebst du ihn und die Klassendynamik?“
GERLINDE: Seine tiefe Weisheit, besonders auf emotionaler Ebene. Er ist wie so ein Glühwürmchen, das ein Lebenslicht in sich trägt und ausstrahlt. Das hat er in sich. Dazu Lebensfreude und Energie, die belebt. Er merkt als Erster, wenn es jemandem nicht gut geht.
Da wird er oft unterschätzt, nur weil er kognitiv nicht die Leistung bringt, wie andere Gleichaltrige. Die Klassenkameraden von Felix sind beschenkt durch ihn, die Zuwendung Felix gegenüber ist phänomenal, diese Zugehörigkeit. Sie sehen ihn als „Felix“ und nicht das Handicap, sie nehmen ihn als Kind an. Er hat einen coolen Rollstuhl und das passt. Die Kinder machen da kein Problem daraus. Sie nehmen ihn einfach mit, so wie`s halt geht. Gestern konnte er in der Pause mit Ball spielen. Und manchmal wird auch gestritten, wer mit auf dem Rollstuhl fahren darf. Sie wissen seine Lieblingsfarben und Vorlieben. Mittlerweile sitze ich allein in der Schulbank und sie haben ihn mit sich in der ersten Reihe – das hatte ich mir immer gewünscht, aber dass es eben von selbst geht und nicht, weil ich das Anordnen würde. Ich bin immer öfter nur im Hintergrund, wenn etwas ist, bin ich ja da. Er darf auch im Theater mitspielen für die Abschlussmesse vor dem Sommer. Die Lehrerin spricht sich mit Gerlinde mit Felix mir ab, wie man das gestalten kann, dass alle gern mit dabei sind: Hören, Sehen, Theater spielen…
Musik und Religion sind seine Lieblingsfächer, die werden bei uns sehr toll gestaltet – bedürfnisorientiert für alle Kinder, Sitzkreise, singen…. Da lebt er auf, ist mittendrin im Geschehen, als wär es für ihn zugeschnitten. Das schönste Kompliment kam für mich von der Religionslehrerin, die sich bei mir bedankte, dass ich ihr wieder die Sicht auf das Kind eröffnet habe, nicht auf das Handicap. Auch sonst meinte sie, sieht man oft nur das Fach und den Schüler, aber weniger den Menschen. Weil die Zeit fehlt. Felix hat diese Sichtweise verändert. Man sieht nur das, was bremst, aber nicht das eigentliche Grundproblem.
LEBE: Was ist denn das Grundproblem?
GERLINDE: Es fehlt einfach an Menschlichkeit. Nicht, weil das Kind nicht mehr mitkommt - wir sind alle viel zu schnell unterwegs, vor allem innerlich. Ein behindertes Kind zeigt das auf, weil es nicht reinpasst.
LEBE: Was braucht es denn, um eine gute Integrationshelferin zu sein?
GERLINDE: Man muss flexibel sein, einfühlsam, auch nicht Angst haben vor Veränderung. Der Beruf steht und fällt mit emotionaler Intelligenz. Ich denke, wir brauchen Herz, Hand und Verstand anstatt leerer Floskeln. Menschen, die anpacken, nicht nur reden. Dass man Unterstützung für die betroffenen Familien gewährleistet und einfach präsent ist, selbst wenn es nur als Springer ist. Auch wenn mal einer zu viel ist. Wertschätzung und ein gutes Gehalt - die Mittel wären da-, dann findet man auch Leute dafür.
LEBE: Was möchtet ihr unseren Lesern noch weitergeben?
GERLINDE: Das Bewusstsein, dass es wieder mehr Menschlichkeit braucht. Dass dann einer halt mal nicht mitlaufen kann, sondern mitrollt, das darf dann ok sein. Das hängt davon ab, wie wir mit der Situation umgehen. Die ganze Gesellschaft muss da ihren Blick aufmachen, damit man es Familien nicht unnötig schwer macht. ◻
Fotos: Privat®









